Gedichte im Islam
Die Knaben in der Lehre

von
Friedrich Rückert

Die Knaben in der Lehre

Zwei Knaben, ihrer Väter einz’ge Söhne,
An Tugend einzig wie an Leibesschöne,
In Lehre lebten sie entfernt beim frommen Alten,
Der solche Blüten sucht zum Himmel zu entfalten.
Einst zwischen beiden blühenden Gestalten
Als über’n Markt er gieng, erblickt’ ein roher Krieger
Die zweie, wie zwei Reh’ ein Tiger,
Und stürzte mit Sinnengier sich auf die Beute;
Dem Alten standen bei die Leute
Des Markts, den Raub dem Räuber zu entführen.
Nachts aber, als bei offnen Thüren
Der Alte ruht im Schlafgemache –
Sonst hielt er in Gebeten Wache,
Heut’ mocht’ er doch vom Kampf Ermattung spüren –
Führt jenen her der wilde Geist der Rache,
Den Alten mordet er, und sucht die jungen,
Die hilferufend sind entsprungen.
Der Räuber ward vom Volk ergriffen,
Für seinen Nacken war ein Beil geschliffen.
Die Knaben aber, als den Meister sie bestattet,
In Thränen sich auf seinem Grab ersattet,
Sprach so der eine zu dem andern:
Wir wollen heim zu unfern Eltern wandern.
Doch jener sprach: Was sollt’ uns hinnen treiben?
Wir wollen treu dem Grab des Meisters bleiben,
Beim Todten allem denken nach,
Was er zu uns im Leben sprach.
Und so geschahs, sie blieben betend, fastend,
Auf ihres Meisters Grab in Andacht rastend.
Bald aber ward der eine krankheitschwach;
Und als er sich zum Sterben legte,
Sprach er zum andern, der ihn weinend pflegte:
Ich danke Gott, dass er, dir mehr als mir gewogen,
Dein Looß hat meinem vorgezogen.
Warum? Sprach jener; dieser sprach,
Indes ihm Stimm’ und Auge brach:
Weil er dich lässt das größre Weh ertragen;
Ich sterbe nur, dich sterben seh’ ich nicht. –
Doch lang’ ertrug ’s auch jener nicht,
Er starb ihm nach in wenig Tagen.

Aus: Sieben Bücher Morgenländischer Sagen und Geschichten

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