Der Offenbarer

Zivilisation und Modernismus

Ali Schariati

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Nun, was bedeutet eine Mosaikgesellschaft?

Das Mosaik setzt sich aus Hunderten kleiner bunter Steine zusammen, die in einer Form zusammengepresst worden sind. Welche Form besitzen sie selbst? Gar keine! Die Mosaiksteine haben verschiedene Farben, verschiedene Teile, die keine besondere Form bilden. Die Zivilisationen sind ebenfalls Mosaikzivilisationen. Etwas Material besitzen sie von alten Zeiten, einige Materialien ohne Form und Norm aus Europa eingeführt; daraus setzt sich das Mosaik einer halb zivilisierten, halb modernisierten Gesellschaft zusammen. Für den Aufbau einer zivilisierten Gesellschaft haben wir nicht das aussuchen können, was für den Aufbau der europäischen Zivilisation notwendig war. Die Zusammensetzung des Mosaiks wurde auch von ihnen bestimmt; denn wir wussten nicht, was „Zivilisation“ ist und welche Form sie hat. Ohne zu wissen, was wir in dieser Gesellschaft aufbauen sollten, bevor wir uns entscheiden konnten, wie wir unsere Gesellschaft nach eigener Denkweise gestalten und nach einem vorgegebenen Plan Elemente eigener bzw. fremder Kultur hineinbringen, haben wir ohne Plan unterschiedliche Elemente aus aller Welt zusammengeworfen, worin sich europäische, eigene, vergangene, gegenwärtige Materialien in einem Haufen befinden – ohne Form, ohne Gestalt. Es wurde eine modernistische Gesellschaft ohne Form und Ziel aufgebaut. Das sind nicht-europäische Gesellschaften, die innerhalb eines bzw. ein und halb Jahrhunderts die Materialien unter der Bezeichnung Zivilisation aus Europa übernommen haben. Auf welche Ursprünge geht die form- und ziellose Mosaikzivilisation in den nicht-europäischen Ländern zurück, in denen weder die Bevölkerung noch die Denker wissen, warum sie leben, wofür sie leben, welche Zukunft auf sie wartet und welche Ansichten sie vertreten?

Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert wurde die Maschine in Europa entdeckt und entwickelt. Sie blieb in der Hand des Kapitalisten und des Reichen. Eine Maschine muss die Produktion steigern, solange sie arbeitet, das ist eben ihre Bestimmung. Wenn eine Maschine ihre Produktion innerhalb 10, 11 Jahren nicht steigert, ist sie dem Untergang geweiht. Sie kann die Arbeit nicht fortsetzen, sie ist gegenüber den anderen Maschinen nicht mehr konkurrenzfähig, denn wenn sie die Produktion nicht steigert, können die anderen Maschinen, die die gleiche Ware produzieren, sie bei einer höheren Produktion den Konsumenten billiger zur Verfügung stellen. So kann die teure Ware nicht verkauft werden. Um den Arbeitslohn zu erhöhen und gleichzeitig die Ware billiger als die Konkurrenz anbieten zu können, muss die Produktion gesteigert werden. Die Maschine wurde dabei von Wissenschaft und Technik unterstützt. Sie konnte ihre Produktion ständig steigern. Das führte zu einer Veränderung der Menschheit. Wir dürfen nicht denken, dass dieses nur eines der vielen Probleme in der Welt ist. Dieses ist d a s Problem, mit dem man in den letzten 2 Jahrhunderten konfrontiert ist. Alle Fragen, die Europa heute der Welt stellt, beruhen auf diesem Problem.

Die Maschine muss jedes Jahr die Produktion progressiv steigern. Damit die Ware nicht liegen bleibt, muss der Konsum ebenfalls gesteigert werden. Der Verbrauch kann jedoch nicht in dem Maße wie die Produktion erhöht werden. Es ist möglich, dass in einer Gesellschaft innerhalb der letzten 10 Jahre der Verbrauch von Papier um 10% gestiegen ist. Es gibt aber Papier produzierende Maschinen, die in dieser Zeit ihre Produktion um 300% gesteigert haben; oder vor 10 Jahren hat eine Maschine in einer Stunde beispielsweise 5 Km Papier produziert, jetzt produziert sie, nach 10 Jahren, 50 Km. So schnell aber ist der Verbrauch in dieser Zeit nicht gestiegen. Was soll man mit der Überproduktion machen? Man muss für neuen Konsum sorgen. Jede europäische Gesellschaft verbraucht eine bestimmte Menge. Infolge der schwindelerregenden und progressiven Steigerung der Produktion kann man die Bevölkerung nicht zwingen, ihren Verbrauch ebenfalls zu steigern. Weil die Maschine dem Zwang der Überproduktion unterworfen ist, müssen die Grenzen überschritten und außerhalb der eigenen Gesellschaft Absatzmärkte gesucht werden.

Als im 18. Jahrhundert die Maschine zusammen mit der neuen Technik und Wissenschaft in die Hände des Kapitals fiel, war das Schicksal des Menschen besiegelt. Alle Menschen der Erde wurden gezwungen, die produzierte Ware zu verbrauchen. Die Märkte Europas waren schnell gesättigt, die Überproduktion musste zwangsläufig nach Afrika und Asien exportiert werden. Afrikaner und Asiaten mussten die europäische Ware verbrauchen, weil es die Arbeitsweise der Maschine so erfordert. Kann man die Waren so einfach in den Orient bringen und die Bevölkerung zwingen, sie zu verbrauchen, obwohl ihre Lebensart den Verbrauch solcher Waren nicht erfordert? Unmöglich! Kommt man in eine asiatische Gesellschaft, so sieht man, dass die Kleider von den Frauen oder einheimischen Werkstätten genäht werden. Sie haben ihre örtliche Kleidung und ziehen sie an. Die Kleider und Stoffe, die von modernen europäischen Maschinen produziert werden, finden hier keinen Absatz. Kommt man in eine afrikanische Gesellschaft, stellt man fest, dass das Vergnügen und die Unterhaltung der Bevölkerung aus Reiten und Pferdezucht bestehen. Sie haben überhaupt keine Straßen, keine Fahrer. Das Auto ist für sie kein Begriff. Sie brauchen keine Maschine. Sie leben in einem ausgewogenen Verhältnis von Produktion und Verbrauch, das mit ihren Traditionen, Bedürfnissen und Geschmacksrichtungen übereinstimmt. Sie empfinden kein Bedürfnis zum Gebrauch europäischer Autos.

Eine europäische Firma produziert große Menge von verschiedenen Kosmetikartikeln; sie steigert ständig die Qualität und Quantität. Diese Waren müssen in afrikanische und asiatische Länder eingeführt werden. Es wäre unmöglich gewesen, dass die Frauen und Männer in Asien und Afrika im 18. und sogar 19. Jahrhundert diese Waren verbraucht hätten, auch wenn man sie ihnen kostenlos zur Verfügung gestellt hätte; denn sie schminken sich nach ihrer eigenen Art, sie hatten ihre eigene Schönheitsvorstellung. Die afrikanischen und asiatischen Frauen brauchen diese Waren nicht, um schön auszusehen oder sich zu schminken. Sie brauchten diese absurden Dinge nicht, sie hatten ihre eigenen Schmink- und Schmucksachen, die allen gefielen und von allen benutzt wurden. Sie verspürten kein Bedürfnis, sie zu verändern

So wäre das kapitalistische Europa aber auf diesen Waren sitzen geblieben. Diese Menschen, die nach ihrer eigenen Denkweise mit ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen lebten und Waren für ihre Bedürfnisse produzierten, wären nicht imstande gewesen, Verbraucher der Waren europäischer Industrie des 18. Jahrhunderts zu sein. Was sollte man da tun? Man musste eben die Menschen in Asien und Afrika zu Verbrauchern europäischer Waren umerziehen. Ihre Gesellschaft musste so umgeordnet werden, dass sie europäische Waren kaufte – also die Veränderung eines Volkes. Das Volk musste verändert werden, damit man die Form seiner Kleidung, seine Konsumgewohnheit, die Form seiner Stadt ändern konnte. Mit welcher Veränderung bewirkt man es? Mit der Veränderung seines Geistes. Wer kann den Geist einer Nation, die Denkweise einer Gesellschaft ändern? Dazu sind weder der europäische Kapitalist noch der europäische Ingenieur oder diejenigen, die diese Waren produzieren, imstande. Da mussten die europäischen Denker heran, um einen besonderen Plan zu erarbeiten, damit der Geschmack, die Denk- und Lebensweise des Nicht-Europäers geändert werden konnten. Das sollte natürlich nicht nach seiner eigenen Wahl geschehen, sonst könnte er sich wieder so verändert haben, dass er kein Verbraucher dieser Waren würde. Geschmäcke, Sorgen, Leiden, Wünsche, Ideale, ästhetische Empfindungen, Traditionen, soziale Verhältnisse, Entspannungsbedürfnisse mussten so verändert werden, dass der Mensch gezwungenermaßen zum Verbraucher der europäischen Industriewaren wurde. So übertrugen die großen Produzenten und Kapitalisten des Europas des 18. und 19. Jahrhunderts den Plan den Denkern. Der Plan lautet, dass alle Menschen auf der Erde vereinheitlicht werden müssen. Sie müssen die gleiche Lebensform und die gleiche Denkweise haben. Alle Völker der Welt haben aber nicht die gleiche Denkweise. Was macht die geistige und schöpferische Identität und Qualität eines Menschen bzw. eines Volkes aus? Seine Religion, seine Geschichte, seine Kultur, seine vergangene Zivilisation, seine Erziehung, seine Tradition. Sie sind die Faktoren, die geistige und schöpferische Identität und Qualität eines Menschen und eines Volkes ausmachen. Diese Faktoren sind in den einzelnen Gesellschaften unterschiedlich. In Europa sind sie anders als an jedem Ort in Asien und Afrika. Sie sollen jedoch vereinheitlicht werden; um das zu erreichen, müssen die unterschiedlichen Denkweisen, die bei jedem Volk, an jedem Ort und jeder Gesellschaft anzutreffen sind, beseitigt werden. Dafür muss ein Muster vorhanden sein.

Welches Muster? Das besorgen schon die Europäer. Sie zeigen allen Orientalen, Asiaten, Afrikaner, wie sie denken, wie sie sich kleiden, welche Sorgen sie haben, wie sie bauen, wie sie ihre sozialen Verhältnisse ordnen, was sie wünschen, was sie verbrauchen, welche Meinungen sie vertreten und woran sie Gefallen finden müssen.

Dann erfuhren wir plötzlich, dass eine neue Kultur unter dem Namen der Erneuerung aller Welt angeboten wurde. Der Modernismus war der härteste Schlag, mit dem an jedem Ort der Welt, in der nicht-europäischen Gesellschaft die eigene Denkweise und Identität des Menschen vernichtet wurde. Die Arbeit der Europäer bestand darin, in allen Gesellschaften, in welcher Form auch immer, den Wunsch nach Modernisierung zu erwecken. Sie hatten festgestellt, dass der Orientale sogar bereit ist, mitzuarbeiten, mit der eigenen Tradition zu brechen und alles, was seine Identität als Nicht-Europäer ausmacht und alle Faktoren seiner Kultur, Religion und die eigene Persönlichkeit mit Hilfe der Europäer zu verteufeln und zu vernichten, wenn sie auf irgendeine Weise in ihm die Liebe zur Modernisierung erweckten.

Das Gemeinsame bei den Ländern des Fernen, des Mittleren und des Nahen Ostens sowie der islamischen Länder und der Länder des schwarzen Kontinentes bestand darin, dass sie der Versuchung des Modernismus erlagen. Modernist werden bedeutete, den Europäern ähnlich zu werden. Der Modernist ist modern im Verbrauch, er kauft moderne Waren, er lebt in modernen Verhältnissen; die Waren, die er verbraucht, die Art wie er lebt, haben mit seiner echten nationalen und sozialen Tradition nichts zu tun, sondern mit den Lebensformen, die aus Europa eingeführt worden sind. Der Nicht-Europäer sollte also in seinem Konsumverhalten zu einem Modernisten werden. Man hätte ihm aber nicht sagen können, dass man seine Denkweise und seine Persönlichkeit erneuern möchte; dann hätte er Widerstand geleistet. Europa musste also in dem Maße, wie es die nicht-europäischen Gesellschaften modernisiert – sie zu modernen Konsumenten macht – ihnen begreiflich machen, dass Modernismus dasselbe ist wie Zivilisation; denn jeder Mensch findet Gefallen an Zivilisation. Man hat also den Modernismus mit der Zivilisation gleichgesetzt, um den Betreffenden dazu zu bringen, selbst bei seiner Modernisierung mitzuarbeiten. Daher haben wir die Erfahrung gemacht, dass die nicht-europäischen Intellektuellen sich intensiver als die Bourgeoisie, Kapitalisten und Industriellen Europas um die Erneuerung des Verbrauchs und der Lebensweise der nicht-europäischen Gesellschaften bemüht haben. Die modernen Waren können sie allerdings nicht selber produzieren – so werden sie abhängig von einer Maschine, die für sie produziert.

Als ich in Europa studierte, hatte eine Autofabrik annonciert, dass sie einen Soziologie- und Psychologie- Studenten mit gutem Gehalt einstelle. Ich suchte Arbeit. Für mich war es interessant zu erfahren, warum eine Autofabrik Soziologen und Psychologen braucht. Ich wandte mich an die Firma. Während des Vorgesprächs mit dem Public-Relation-Beauftragten der Firma sagte er mir, sie werden wahrscheinlich fragen, warum wir einen Soziologiestudenten zu uns gebeten haben, denn normalerweise müssten wir mit den Studenten der technischen Fächer zu tun haben. Ich bejahte seine Vermutung. Diese Frage möchte ich Ihnen beantworten, sagte er. Er brachte eine geographische Karte von Asien und Afrika und zeigte mir die Städte, in denen ihre Autos gut verkauft wurden, und wiederum Orte, in denen sie nicht verkauft werden konnten. Den Grund, sagte er, kann man von einem Ingenieur nicht erfahren. Der Soziologe muss wissen, welchen Geschmack die Leute haben, warum sie das Auto nicht kaufen, damit wir eventuell Farbe und Auto ändern, wenn wir nicht imstande sind, sie selber zu verändern. Dann gab er mir ein Beispiel über den Erfolg der europäischen Soziologen bei der Modernisierung der Stämme. Er zeigte mir ein waldreiches, gebirgiges Land am Ufer des Tschad-Flusses, in dem Eingeborenenstämme lebten. Er zeigte einige Ortschaften, wo die Bewohner um eine Festung, die dem Stammeshäuptling gehörte, wohnten. Der Stamm hat noch keine Schulen, sagte er, es existieren keine Straßen, die Bevölkerung hat keine ordentliche Bekleidung, sie haben keine Häuser, sie leben in Zelten. Dann zeigte er, dass der Häuptling dieses halbzivilisierten Stammes 2 Renault-Fahrzeuge mit goldenen Leisten vor der Festung geparkt hatte.

Er wollte damit zeigen, dass ursprünglich das Pferd der Bevölkerung zum Zeitvertrieb diente; wer das beste Pferd hatte, war am berühmtesten und wurde von allen beneidet. Das Pferd war ein Zeichen der persönlichen Eitelkeit und Rivalität.

Solange dieser Geist in einem Stamm herrscht, kauft keiner Autos. Alle kaufen Pferde. Wir züchten aber keine Pferde. Da muss etwas geschehen, damit der Eingeborene das in Europa produzierte Auto kauft.

Die Stammesfrauen schminken sich mit den pflanzlichen Säften bestens, sie gefielen allen mit ihren Volkskleidern, Volkstänzen und volkstümlichen Speisen. So ist es nur natürlich, dass in solch einem Stamm die Frau weder Kosmetik-Artikel von Christian Dior kauft, noch der Mann Fahrzeuge von Renault. Solch einem Stamm kann der Europäer seine Waren nicht verkaufen.

Intensive Vorarbeiten waren notwendig, damit die europäischen Soziologen den Geschmack des Eingeborenen verändern konnten. Zuerst fand er es „chic“ zwei schöne und intelligente Pferde und die besten Jagdhunde vor seiner Festung zu halten. Nun haben wir seinen Geschmack so verändert, wir haben ihn so modernisiert, dass er nicht mehr stolz ist, 2 Pferde vor seiner Festung halten zu können, sondern 2 Renault mit goldenen Leisten. Wo sind denn die Straßen? Fragte ich. Sie haben vorläufig 7-8 km Straßen um die Festung gebaut, sagte er. Als der Häuptling den Wagen neugekauft hatte, fuhr er jeden Tag damit spazieren. Er gab ständig Gas, die Leute sammelten sich um den Wagen und schauten sich ihn an. Der Fahrer war 7-8 Monate da und bekam monatlich sein Gehalt. Da sie keine Tankstelle hatten, brachten sie das Benzin mit den Booten von weit her.

Daraus kann man ersehen, dass die Kapitalisten nicht vorhatten, den Stamm zu zivilisieren sondern ihn zu modernisieren. Sie wollten Leute, die statt auf Pferde und Reiten stolz zu sein, auf Autos und Autofahrten stolz waren. Der Stammesführer, der Asiat oder der Nicht-Europäer ist in der Tat modernisiert worden. Man müsste schon sehr naiv und oberflächlich sein, um zu behaupten, dass er auch zivilisiert wurde.

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