L2 - Der Mensch verlangt nach Gott
Außerhalb des komplizierten Systems des Körpers hat der
Mensch viele und bedeutende Dimensionen, die nicht an seine
physischen Mechanismen gefesselt sind. Um diese Aspekte und
Ebenen zu entdecken, die über die körperliche Struktur
hinausgehen, muss man sich in die inneren, spirituellen
Strukturen hinein suchen, zusammen mit den delikaten und
veredelten Manifestationen seiner Gefühle und Instinkte und
die weiten Horizonte seiner ausgedehnten Natur wahrnehmen.
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Eine Serie von besonderen Arten der Wahrnehmung existiert
im Menschen, die in ihm selbst wurzeln und deren Auftauchen,
emporkommend aus dem Gewebe menschlicher Natur, keinem
externen Faktor zu verdanken sind. Unter diesen Wahrnehmungen
gibt es den Sinn für das Bekenntnis zur Gerechtigkeit, zur
Aufrichtigkeit, und zur Ehrlichkeit. Bevor der Mensch in den
Bereich der Wissenschaft und Erkenntnis mit all seinen
Belangen eintritt, ist er in der Lage, mithilfe dieser
immanenten Wahrnehmungen gewisse Wirklichkeiten zu erspüren.
Aber nach dem Eintreten in die Welt der Wissenschaft und
Philosophie und nachdem er seinen Kopf mit diversen Beweisen
und Deduktionen gefüllt hat, kann er seine eigene natürliche
Vorstellung vergessen oder sie anzuzweifeln beginnen. Dies ist
auch der Grund, weshalb er über diese ihm eigene Natur
hinausgeht und sich von einer Überzeugung abgrenzen kann,
während in ihm Meinungsverschiedenheiten zu entstehen
beginnen.
Die Inklination zur Religion und der Glaube an Gott zeigen
sich in ihren frühen Stadien durch instinktive Motive und
immanente Wahrnehmungen, aber sie entwickeln und formen sich
mit Hilfe der Ratio und dem Denken. Die Wurzel dieses
innewohnenden Gefühls ist als Disposition des Menschen so tief
verankert und gleichzeitig so klar und evident, dass eine
Person an sich selbst feststellen kann, wie sie mit der
Gesamtheit des Seins in eine bestimmte Richtung geht, sobald
sie ihren Verstand und Geist von religiösen und antireligiösen
Konzepten säubert und sich dann selbst betrachtet, sowie auf
die existierende Welt um sich herum schaut. Ohne ein Verlangen
oder einen Willen auf ihrer Seite, beginnt sie ihr Leben zu
einem bestimmten Zeitpunkt und, wieder ohne es zu wollen,
gelangt sie zu einem anderen Punkt, einen, den sie nicht
kennt. Diese Realität kann in allen Kreaturen beobachtet
werden. Wenn ein Mensch mit klarem Verstand sich in der Natur
umschaut, wird er die Existenz einer großen Kraft fühlen, die
ihn und die ganze Welt um ihn herum umgibt. In seinem eigenen
Sein, das ein Bruchteil der ganzen Welt ausmacht, wird er
Wissen, Kraft und den Willen zu existieren erkennen und er
wird sich selbst fragen, wie Wissen, Kraft und Willen nicht
auch im Ganzen sein können. Es ist die ausbalancierte Ordnung
und Bewegung der Welt, die den Menschen dazu bringt, die
Existenz eines universellen Intellektes, der über die zu
akzeptieren. Eines Intellekts, der über die Welt der Natur
hinaus geht, dennoch diese erschafft und befehligt; solange
das nicht akzeptiert wird, lässt sich die Ordnung dieser Welt
nicht erklären. Jeder, der seine eigene Position in dieser
Welt einschätzen kann, wird erahnen können, dass es da eine
Macht gibt, die ihn erschafft, ihn hervorbringt und in ihm
Bewegung inspiriert und die ihn dann auch wieder verschwinden
lässt, ohne ihn selbst dabei um Erlaubnis zu fragen, noch
Assistenz in diesen Dingen zu verlangen.
Der Führer und Märtyrer, Husayn, Sohn Alis (Möge der
Frieden mit ihnen beiden sein) äußerte in seinen persönlichem
Bittgebet zu Gott: „Wie ist es möglich, Deine Existenz von
einer Sache abzuleiten, wenn ihr Sein doch abhängig von Dir
ist? Warum besitzt Du nicht die Manifestation, die
Alles-was-Du-nicht-bist besitzt, dass sie Dich evident machen?
Warst Du denn je vor dem inneren Auge verborgen, als das Du
Beweise bräuchtest als Führung zu Dir? Wann warst Du uns denn
jemals fern, als das Deine Spuren und Zeichen uns Dir näher
brächten? Blind ist das Auge, welches nicht sieht, dass Du es
bist, der es sieht und beschützt! Oh Gott, Du, der Du Dich uns
gezeigt hast mit Deiner Pracht, Wie kannst Du verborgen sein,
wo Du doch manifestiert und evident bist? Wie könntest Du
fremd sein, wo Du doch durch Deine nicht endende
Manifestierung über Deine Diener wachst?“ (Du ́a-yi ́Arafa in
„Mafatih Al-Janan“)
Nirgends und zu keiner Zeit wurde ein Ding ohne einen
Erschaffer geschaffen, noch wurde ohne einen Schaffenden
irgendetwas je geschafft. Die Suche nach der Verbindung
zwischen Ursache und Wirkung erwächst aus dem Instinkt eines
Menschen: Das Bewusstsein um die Kausalität kann von niemandem
genommen werden. Ebenso kann das religiöse Sentiment, die
Suche nach dem Schöpfer von niemandem genommen werden. Sogar
ein Kind ohne jegliche Erfahrung von der Welt wird, wenn es
ein Geräusch hört oder eine Bewegung bemerkt, instinktiv in
die Richtung schauen, wo das Geräusch seinen oder die Bewegung
ihren Ursprung hat.
Praktische Erfahrung und Wissen basieren auf der Akzeptanz
der Ursache einer Wirkung. Die Norm der Kausalität ist
faktisch eine absolute, die keine Ausnahmen erlaubt. Geologie,
Physik, Chemie, Soziologie, Ökonomie - in diesen und anderen
Bereichen der Wissenschaften dient die Forschung dem Zweck,
das Prinzip der Ursache und Wirkung zu spezifizieren und die
Faktoren und die Beziehungen die damit zusammenhängen zu
erkennen. Kurz, es ist klar, dass Wissenschaft und Erkenntnis
nichts anderes sind als die Suche nach den Ursachen. Jeglicher
Progress und Fortschritt in menschlichen Belangen ist das
Ergebnis von Untersuchungen der Ursprünge der Phänomene,
ausgeführt von Gelehrten.
Wäre es uns möglich, in irgendeiner Ecke des Universums
auch nur ein Zeichen in einer einzigen Sache von absolutem
Selbst-Ursprung oder Kreativität zu finden, wir wären
berechtigt, diese Angelegenheit auf die komplette Architektur
des Seins auszuweiten. Natürlich ist es nicht notwendig, dass
sich uns das Gesetz der Kausalität immer in uns bekannten
Manifestationen zeigt. Die Vielfalt und Multiplizierung der
Ursachen ist zuweilen so groß, dass der Untersuchende, der
sich nur mit einem Phänomen beschäftigt, sich nicht in der
Lage sieht, allen Ursachen auf den Grund zu gehen. So ist in
allen Dingen, welche die Menschheit betreffen, seien sie
allgemeiner oder spezieller Natur, seien sie aus der
Vergangenheit oder der Zukunft, seien es die Belange eines
Individuums oder einer ganzen Gesellschaft, kein einziger
Punkt zu finden, der zufällig wäre. Es ist nicht nur eine
bestimmte Ordnung in der Schöpfung eines jeden Phänomens
gegeben; es ist zu beobachten, dass jede Beziehung eines
Phänomens zu einem anderen Phänomen, sowie das Phänomen in
Beziehung zu seiner Umwelt, in denen es existiert, einer fein
kalkulierten Ordnung unterliegt. So operieren zum Beispiel bei
dem Heranwachsen eines Baumes die Gesetze des Himmels und der
Erde in perfekter Harmonie mit der Struktur seiner Wurzeln und
Äste. Es gibt auch die Beziehung des Tieres zum Baum, der
durch diesen Nahrung erhält. Wie könnte der Zufall der
Ursprung solch geordneter Beziehungen sein?
Wenn sich auf einer bestimmten Ebene ein Phänomen in der
Struktur von etwas Seienden formen würde, unbewusst und
zufällig, so wäre dies eine exzellente Basis für das
Verschwinden und der Zerstörung dieser Welt. Weil schon der
geringfügigste Bruch im Gleichgewicht der Elemente und die
kleinste Disharmonie in den strahlenden Gesetzen des
Universums ausreichen würden, damit die Dinge ihre
Verbindungen verlören und die himmlischen Objekte würden
kollidieren, was die Zerstörung der Welt zur Folge hätte.
Wenn der Ursprung der Welt auf Zufall basieren würde, warum
basieren dann sogar die Theorien der Materialisten auf einem
Plan, einem geordnetem Gefüge, der Abwesenheit von
Wahrscheinlichkeit? Wenn die ganze Welt nur zufällig und das
Ergebnis einer Wahrscheinlichkeit ist, was ist nicht auf der
Basis der Wahrscheinlichkeit entstanden? Wenn etwas Existentes
nicht durch die Wirkung der Wahrscheinlichkeit „seiend“ wurde,
was sind dann die entscheidenden Merkmale bzw. Charakteristika
und können sie auf die vielen und variationsreichen Phänomene
des Universums angewendet werden?
Da der Zufall sich zur Ordnung und Harmonie gegensätzlich
verhält, folgt daraus, dass alles, was nur teilweise Planung,
Design und Kalkulation aufzeigt, unharmonisch und unterbrochen
sein müsste. Dies, weil das Konzept von Planung, Design und
Kalkulation im Gegensatz zum Zufall stehen.
Anzunehmen, dass der Zufall die Infrastruktur und das
tragende Prinzip sei, unterliegt keinem logischen oder
wissenschaftlichen Beweis, es kann daher nicht als definitive
Lösung für die Geometrie und Struktur des Seins akzeptiert
werden.
Wenn die experimentelle Wissenschaft demonstriert, dass die
Elemente und natürlichen Kräfte nicht unabhängigen Einfluss
haben können und keine eigene Kreativität besitzen; wenn all
unsere Erfahrungen, unser sensorisches Empfindungsvermögen und
unsere rationalen Deduktionen auf die Folgerung hinweisen,
dass nichts in der Natur ohne Grund und Ursache geschieht,
dass alle Phänomene auf einem etablierten System beruhen und
speziellen Gesetzen folgen; wenn all dies der Fall ist,
erstaunt es, wie manche Menschen wissenschaftlich fundierten
Prinzipien den Rücken kehren und die Existenz eines Schöpfers
verneinen.
Bildung und umweltbedingte Faktoren liefern die Ursachen,
die entweder verhindern, dass die angeborenen Wahrnehmungen
des Menschen zum Vorschein kommen, oder aber sie verstärken
diese noch. Was immer aus der Quelle des Instinktes erscheint
ähnelt der Ordnung, dem Muster der Natur. Jene, denen es
vergönnt ist dem ursprünglichen Kurs ihrer eigenen Schöpfung
frei zu folgen, ohne durch Gewohnheit eingesperrt zu sein, und
deren innere Natur nicht durch Worte und Ausdrücke verfärbt
wurde, sind eher in der Lage, den Ruf in ihrem Innern zu
vernehmen. Sie können zwischen guten und schlechten Taten
unterscheiden, zwischen wahrem und falschem Glauben.
Irrglaube, welcher tatsächlich ein Abdriften von der wahren
Natur ist, wird selten bei solchen Menschen gesehen. Wenn
ihnen jemand erzählt, dass die Welt keine innere Ordnung
besitzt und dass sie einem Zufall entspringen und diese Person
diese Inhalte auch noch in philosophischer Wortgewandtheit
ausschmückt, so hat es auf solche Leute keinen Effekt. Sie
lehnen diese Theorien durch das Wirken ihrer eigenen Natur ab.
Jene, die in den Netzen der Wissenschaft gefangen sind,
können viel eher durch die betörende Terminologie der Skepsis
verwirrt werden. Das limitierte Wissen, welches Arroganz im
Menschen initiiert, ist wie ein buntes Glass, welches vor den
Augen des Intellekts und der wahren Natur platziert ist. Wer
etwas Wissen besitzt, wird dieses durch die Blende seines
Erlernten verfärbt betrachten. Er stellt sich die gesamte
Realität durch die schmale Öffnung dieser Blende vor und seine
Sinne und sein Intellekt sind der Farbe verfallen. Natürlich
sagt niemand, dass der Mensch aufhören sollte, sich zu
entwickeln, nur um seinen Intellekt vor Illusion zu
beschützen. Aber er sollte nicht bei dem Wissen limitiert
bleiben, dass er hat, noch über seine begrenzte Einsicht stolz
sein. Statt ihr Lernen und ihre Kenntnisse zur Leiter zu
transformieren, die es zu erklimmen gilt, um höhere
Wissensgrade zu erreichen, bleiben die meisten Menschen stehen
und sind gefangen in den vier Wänden ihrer festgefahrenen
Konzepte und Termini.
Die ursprüngliche Natur des Menschen rennt zu ihrem Helfer,
sobald sie Gefahr spürt. Wenn eine Person schwere Zeiten mit
übergroßen Problemen durchlebt, wenn sie allerlei Entbehrungen
ausgesetzt ist, gleich einem Strohhalm hin und her geworfen
wird und ihr Tod nur noch einen kleinen Schritt von ihr
entfernt ist - dann führt sie ein inneres Etwas zu einer
nichtmateriellen Quelle der Unterstützung. Sie sucht Hilfe bei
jenem, dessen Kraft alle Kraft übersteigt, und sie versteht,
dass es diese mitfühlende und allmächtige Existenz ist, die
ihr beistehen kann und sie mit außerordentlicher Stärke zu
beschützen vermag. Aufgrund ihrer Wahrnehmung sucht sie mit
aller Kraft nach der Hilfe der allerheiligsten Existenz, um
vor Gefahr bewahrt zu werden und aufgrund des Allerheiligsten
in ihrem Herzens, erspürt sie die Macht und Stärke dieser
Existenz.
Einmal wurde Imam Jaafar Sadiq (Friede sei mit ihm) nach
der Leitung zum Herrn gefragt, denn der Fragende war durch die
Reden der Polemiker verwirrt worden. Der Imam fragte daraufhin
zurück: „Bist du jemals mit dem Schiff verreist?“ Er
antwortete: „Ja.“ Der Imam: „Ist es je passiert, dass euer
Schiff ein Leck hatte und niemand da war, der dich vor dem
Ertrinken in den Wellen des Ozeans bewahren konnte?“ Er
erwiderte: „Ja.“ Der Imam: „In diesem gefährlichen Moment und
in diesem Zustand der Verzweiflung, hattest du da das Gefühl,
dass eine unendliche und allmächtige Kraft dich vielleicht vor
diesem schrecklichen Schicksal retten könnte?“ Er sagte: „Ja,
so war es tatsächlich.“ Der Imam: „Es ist Gott, der
Allmächtige, der die Quelle des Vertrauens ist, zu dem die
Menschen mit Hoffnung schauen, wenn alle Türen verschlossen
sind.“ (aus „Bihar Al-Anwar“)
Sogar rebellische und materialistische Menschen in
einflussreichen Positionen, die sich der Macht Gottes nicht
bewusst sind, da sie sich selbst als Herrschende kennen,
verändern sich, sobald sie in die Falle der Niederlage und
Zerstörung tappen. Sie vergessen die Leugnung Gottes, die sie
durch ihre Umwelt und der materialistischen Schule gelehrt
bekamen und wenden sich von ganzem Herzen dem Ursprung allen
Seins und der Quelle aller Stärke zu. Die Geschichte weist auf
zahlreiche Beispiele von Menschen hin, die Opfer schwerer
Umstände wurden, so dass sich der Staub der Verschmutzung
plötzlich von ihrer wahren Natur löste und aus tiefster Seele
wandten sie sich an ihren Schöpfer. Zusätzlich zu den inneren
Ressourcen, die dem Menschen eigen sind und ihm dabei helfen
die Realität zu entdecken, so dass er frei von allen mentalen
Konstrukten und Zwängen den Pfad seiner ursprünglichen Natur
beschreiten kann, ist auch das äußere Einwirken notwendig, um
dem Menschen den Weg zu zeigen und seine ursprüngliche Natur
zu stärken. Es ist eine Führung, die rebellische Qualitäten
reformiert und den Intellekt und die ursprüngliche,
unverfälschte Natur vor Perversion und dem Gehorchen falscher
Götter beschützt.
Die Propheten wurden gesandt, um den Menschen die subtile
Wahrnehmung ihrer eigentlichen Natur bewusst zu machen, um
ihre von Gott geschenkten Inklinationen zu ermöglichen, den
richtigen Weg einzuschlagen und um den erhabenen Zielen Flügel
zu verleihen. Der Führer der Gläubigen, Ali Ibn Abi Talib
(Friede sei mit ihm), sagte dazu: „Gott sandte seine Boten
unter die Menschen, so dass sie diese (Gesandten) nach dem
Bund fragen, um sich durch sie an die vergessenen Gnaden ihres
Gottes erinnern zu können, durch sie ermahnt zu werden, durch
sie versteckte Weisheit zu erlangen und damit ihnen durch sie
die Zeichen von Gottes Macht gewahr werden.“ („Nahj al.Balagha“
(Ed. Subhi Salih))
Solche Leitung und Ermahnung impliziert nicht in geringster
Weise die Auslöschung des kreativen Willens oder die
Entziehung seiner Freiheit und seiner Fähigkeit zu denken und
zu wählen. Diese Leitung ist vielmehr eine Art Assistenz bei
der Entwicklung der positiven Inklinationen und Instinkte.
Durch Leitung und Ermahnung wird der Mensch von seinen Ketten
befreit und in die Lage versetzt, von allen Dimensionen seiner
ursprünglichen Natur zu profitieren und mit seinem gesamten
Sein zu wachsen.
Der Koran sagt: „(...) und er (der Prophet) nimmt hinweg
von ihnen ihre Last und die Fesseln, die auf ihnen lagen - die
also an ihn glauben und ihn stärken und ihm helfen und dem
Licht folgen, das mit ihm hinab gesandt ward, die sollen
Erfolg haben.“ (Vgl. Koran: Sure 7, Vers 157),
„Oh, die ihr glaubt, antwortet Gott und dem Gesandten, wenn
er euch ruft, auf dass Er euch Leben gebe (...).“ (Vgl. Koran:
Sure 8, Vers 24), „Oh ihr Menschen!
„Nunmehr ist eine Ermahnung zu euch gekommen von eurem
Herrn und eine Heilung für das, was in den Herzen sein mag
(...).“ (Vgl. Koran: Sure 10, Vers 57)
Die ersten Menschen, die dem Ruf der Propheten folgten,
sind Menschen mit reinen Herzen und erleuchtetem Bewusstsein
gewesen. Die Reihen jener, die gegen sie arbeiteten, bestanden
aus Menschen, die ihrer illusionären Macht und ihrem Reichtum
vertrauten, oder sie waren auf ihr angesammeltes Wissen derart
stolz und von ihrem verfärbten intellektuellen Fähigkeiten so
stark eingenommen, dass sie nicht in der Lage waren, ihre
grundlose Arroganz abzulegen. Dies hielt sie davon ab, ihre
inneren Kapazitäten und Potentiale zum blühen zu bringen.
Ein Gelehrter beschrieb es so: „Auch in spirituellen Dingen
greift das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Wenn es die
Nachfrage nach Religion in der Natur des Menschen nicht gäbe,
würde das Angebot seitens der Propheten vergeudet sein. Wir
sehen jedoch, dass das von den Propheten offerierte seine
Kunden fand. Ihre fruchtbare, klare und authentische Vision
hat zahlreiche Anhänger und Unterstützer gefunden. Dadurch
zeigt sich, dass die Nachfrage für Religion im Menschen in
seinem innersten Bewusstsein besteht.“
Fakt ist, das Fundament aller Predigten der Propheten war
der Ruf zum Monotheismus, nicht zum Beweis für die Existenz
Gottes. Sie negierten den Wert der Götzen, der Sonne, des
Mondes und der Sterne als anbetungswürdige Objekte, so dass
der innere und natürliche Durst der Menschen nach Anbetung in
die Richtung gelenkt werde, die es ihnen ermöglichte, alle
Ziele und Werte in dem wahren Objekt der Anbetung zu suchen.
Ihre Herzen sollten mit endloser Perfektion verbunden werden,
und mit diesem immer wieder herabgekommenen Glauben sollten
sie ständig zur Quelle aller Werte und Tugenden vorwärts
schreiten, um endlich ihr Ziel zu erreichen. Alle Variationen
des Polytheismus und des Irrglaubens - vom primitiven
Götzenkult über die fortgeschrittene Form, dem Materialismus -
sind das Ergebnis der Abwendung von der ursprünglichen Natur.
Der Progress von Wissen im Kontext von religiöser Erfahrung,
der überall auf der Welt vonstatten geht, hat Entdeckungen zur
Folge, die es erlauben, gewisse Schlüsse zu ziehen.
Basierend auf Daten, die von Soziologen, Archäologen sowie
Anthropologen gesammelt wurden, analysiert die Geschichte der
Religionen heute den religiösen Instinkt zusammen mit den
Institutionen, Glaubensformen, Sitten und den Faktoren, welche
die Gesellschaft formen, auf einer neuen Weise, die sich von
früheren Erklärungen unterscheidet. Der religiöse Instinkt
zieht sich wie ein roter Faden durch das Denken verschiedener
Schulen und findet ständig neuen Zulauf, mit dem Effekt, dass
Religion eine primäre, natürliche und stabile Komponente des
menschlichen Geistes ist.
Um 1920 war der deutsche Philosoph Rudolf Otto in der Lage
zu beweisen, dass parallel zu den intellektuellen und
ethischen Elementen im Menschen ebenfalls ein superrationales
Element zu finden ist, welches das religiöse Empfinden
konstituiert. Gott betreffende Attribute wie Macht, Größe und
Transzendenz dienen dem Zweck der Betonung, dass diese
Heiligkeit auf kein anderes Konzept reduziert werden kann. Es
handelt sich hierbei um eine unabhängige Kategorie, die nicht
aus einer anderen folgt, und sie ist auch nicht mit
irgendeinem anderen Konzept in ihrem Wesen vergleichbar.
Eine der Besonderheiten der heutigen Zeit ist die Suche
nach der vierten Dimension in der Welt der Natur, die man
„Zeit“ nennt. Wie die anderen Dimensionen ist auch die Zeit
vermischt mit Körpern und darum existiert kein Körper in
dieser Welt losgelöst von der Zeit, welche aus Bewegung und
Veränderung hervorkommt.
Es ist außerdem charakteristisch für unsere Epoche, dass
die Gelehrten und Forscher zu der Entdeckung einer „Vierten
Dimension des menschlichen Geistes“ gekommen sind: Dem
religiöse Empfinden.
(Fußnote: Es gibt in dieser Angelegenheit eine klare
Referenz durch eine Überlieferung von Imam Sajjad (Friede sei
mit ihm): „Rein und erhoben bist Du, oh Herr, der Du das
Gewicht der Erde kennst! Rein und erhoben bist Du, oh Herr,
der das Gewicht der Dunkelheit und des Lichts kennt! Rein und
erhoben bist Du, oh Herr, der Du das Gewicht des Schattens und
der Luft kennst.“, „Sahifa-yi Saniya“, Gebet 55)
Die anderen drei Dimensionen oder Gefühlsbereiche des
menschlichen Geistes bestehen aus dem Sinn für Neugierde, dem
Sinn für Tugend und dem Sinn für Ästhetik. Der religiöse Sinn
oder das Konzept für das Heilige ist die vierte Dimension und
die grundlegendste von allen. Jeder hat eine innewohnende
Hingezogenheit zu dem, was über das Natürliche hinausgeht,
separat und unabhängig von den anderen drei Sinnen. Mit der
„Entdeckung“ des religiösen Empfindens, stürzte das
dreidimensionale Gefängnis des Geistes ein und es wurde
bewiesen, dass die religiösen Neigungen des Menschen
selbstständig in seinem Sein wurzeln. Diese Neigungen traten
sogar in jenen Zeiten zutage, als Menschen noch in Höhlen und
Wäldern lebten.
Trotz des Vorrangs, der Autonomie und der Effektivität der
drei genannten Sinne und der Rolle, die sie beim Hervorbringen
von Wissenschaft, Ethik und Kunst spielten, war es doch der
religiöse Sinn, welches das Fundament für die Aktivität dieser
drei Sinne war. Er half ihnen auf ihrem Pfad fortzuschreiten
und die Geheimnisse der geschaffenen Welt zu entdecken.
Aus der Sicht eines Gläubigen ist die Welt auf der Basis
von Gesetzen und einem präzisen wohl kalkulierten Plan
kreiert. Dieser Glaube an einen bestimmenden, weisen Gott
stimuliert den Sinn der Neugierde, suchend nach den
Gesetzmäßigkeiten und Mysterien der Natur, die auf einer Kette
von Ursachen und Wirkungen basieren. Die Rolle, welche der
religiöse Sinn bei der Entwicklung und der Veredelung der
menschlichen Qualitäten spielt, bei der Modifizierung seiner
Instinkte und bei der Bereicherung seines Sinns für Moral und
Tugend, ist unleugbar. Jene, die dem Diktat der Religion
folgen, halten die Kontrolle ihrer Instinkte und das Aneignen
von außergewöhnlichen sowie noblen Eigenschaften für eine der
wichtigsten Pflichten.
Religiöses Gedankengut war in der Geschichte seit jeher mit
dem Kultivieren des ästhetischen Sinns verwoben. Der primitive
Mensch hat die kreativsten Kunstarbeiten zur Glorifizierung
seiner Götter geschaffen. Die bemerkenswerten Tempel Chinas,
die großen Pyramiden Ägyptens, die erstaunlichen Statuen
Mexikos, die feine Architektur des islamischen Ostens - sie
alle reichen zurück auf den religiösen Sinn.
Psychologen glauben, dass es eine Verbindung zwischen den
Krisen der Pubertät und dem plötzlichen Auftauchen von
religiösem Empfinden gibt. In diesem Lebensabschnitt nimmt der
religiöse Sinn selbst bei Menschen, die vorher keine Stellung
zu religiösen Themen bezogen haben, auf spezifische Weise an
Bedeutung zu. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die inneren
Rufe sich derart manifestieren, dass keine Behinderung ihren
Weg nachhaltig versperren kann. Bestimmte Faktoren, wie
gegensätzliche Propaganda, können das Wachstum und die
Entwicklung von internem Gefühl und korrektem Gedankengut
verringern, auch wenn solch negativer Einfluss nicht die
komplette Entwurzelung der natürlichen Tendenzen zur Folge
haben muss. Denn wenn diese Hindernisse beseitigt werden,
nehmen die Instinkte wieder ihre Aktivität auf und zeigen sich
wieder mittels der immanenten, kreativen Anstrengungen.
Wir wissen, dass mehr als ein halbes Jahrhundert seit der
kommunistischen Revolution in der Sowjetunion vergangen sind,
aber die Wurzeln der Religion bestehen nach wie vor tief in
den Seelen der sowjetischen Menschen. Trotz der Bemühungen der
Regierenden, über einen langen Zeitabschnitt hinweg die
Religion zu entwerten, war es ihnen nicht möglich, den
religiösen Sinn aus dem Bewusstsein der Massen zu entfernen.
Die Existenz von materialistischen Ideen in der Welt steht
daher nicht im Widerspruch zu dem Fakt, dass der Glaube an
Gott für den Menschen etwas Natürliches ist. Wenn eine
Denkschule den Pfad der ursprünglichen Natur verlässt, sich
selbst damit zu einer Ausnahme machend, sowohl in heutigen als
auch in vergangenen Zeiten, kann dies dennoch nicht
widerlegen, dass der Glaube an Gott für den Menschen etwas
Natürliches ist. Ausnahmen existieren in allen Sphären. Was
die Geschichte zeigt ist, dass die materialistische Schule im
sechsten und siebten Jahrhundert vor Christi Geburt gegründet
wurde.